Zum Inhalt springen

Wie Kinderfragen, die Bibel und Rainer Maria Rilke uns lehren, auch mit dem Unfertigen zu leben:"Leben Sie jetzt die Fragen"

„Warum?“ – diese Frage begleitet Michael Michels gerade täglich vielfach, gestellt durch seine Tochter. Und sie erinnert ihn: Nicht immer geht es darum, sofort eine Antwort zu haben. Manchmal beginnt Glaube damit, die Fragen stehen zu lassen.
Eine Hand greift nach der Sonne, die durch Bäume scheint
Datum:
1. Okt. 2025
Von:
Michael Michels

Meine Tochter steckt gerade tief in der „Warum“-Phase – eine herrliche, wenn auch manchmal anstrengende Zeit. Auf fast alles, was man sagt, folgt ein „Warum?“. Und fast alles, was sie sieht, wird zur Frage. „Hat das Baby in Mamas Bauch auch schon Träume?“ oder „Haben Fische eigentlich Durst?“ Dabei spart sie auch die großen Themen nicht aus: „Wenn Gott alle gleich lieb hat – hat er dann überhaupt ein Lieblingsessen?“ oder „Kann Gott sich selber sehen?“

Die goldene Regel für Erwachsene in dieser Phase lautet: niemals mit „Darum“ oder „Das ist halt so“ antworten. Kinder ernst nehmen, ihre Fragen teilen, gemeinsam nachdenken – das ist entscheidend. Damit schenken wir ihnen etwas, was uns Erwachsenen oft fehlt: jemanden, der uns bei unseren Lebensfragen an die Hand nimmt.

Dieses Manko unserer Existenz – dass wir so oft mit ungelösten Fragen leben – ist eine zutiefst biblische Erfahrung. Im Buch der Weisheit heißt es:
„Welcher Mensch kann Gottes Plan erkennen oder wer begreift, was der Herr will? Unsicher sind die Überlegungen der Sterblichen und einfältig unsere Gedanken. (…) Wir erraten kaum, was auf der Erde vorgeht, und finden nur mit Mühe, was auf der Hand liegt; wer ergründet, was im Himmel ist?“ (Weisheit 9, 13–16)

Meine Kollegin Anja Günther hat mich vor ein paar Tagen mit dem Hinweis auf einen wunderbaren Text beschenkt. Es ist ein Ausschnitt aus einem Brief Rainer Maria Rilkes an einen jungen Dichter. Rilke, geprägt von Nietzsche und Schopenhauer, und keineswegs als christlicher Autor zu beschreiben, gibt hier einen Lebensratschlag, den man als perfekte Auslegung auf die Bibelstelle aus dem Buch der Weisheit lesen könnte. Gerne möchte ich auch Ihnen diese wunderbaren Worte Rilkes in diesem „Glaube to go“ ans Herz legen:

„Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.“

Vielleicht ist genau das die Einladung an uns: Unsere Fragen nicht zu verdrängen, sondern sie zu umarmen. Und darauf zu vertrauen, dass Gott uns Schritt für Schritt – manchmal ganz unmerklich – in die Antworten hineinwachsen lässt.