Das Du im Angesicht des Grauens:Eine Gotteserfahrung in Auschwitz

Manchmal staune ich immer wieder über die Absurditäten des Glaubens.
Wann haben Sie zuletzt in Ihrem Leben Gott gespürt? Oder ein Gefühl für seine Existenz gehabt? Jeder „gute Katholik“ müsste jetzt natürlich wie aus der Pistole geschossen antworten: „Na letzten Sonntag beim Besuch der Heiligen Messe natürlich!“ Wenn Sie dies so bejahen können, freut mich das sehr für Sie! Falls genau diese Antwort bei Ihnen nun aber nicht wie aus der Pistole geschossen kommt, kann ich sie trösten: Bei mir auch nicht. Seit einigen Wochen, vielleicht sogar Monaten, suche ich nach Spuren Gottes in meinem Leben, nach diesen knisternden Momenten, an denen ich spüre: Gott ist da!
Zu den bereits erwähnten Absurditäten des Glaubens gehört, dass ich nun eine ganz tiefe Gotteserfahrung ausgerechnet an dem Ort gemacht habe, der für viele Menschen ein Beweis für die Nicht-Existenz Gottes ist: Das Konzentrations- und Vernichtungslager in Auschwitz-Birkenau.
Bei der diesjährigen Jugendfahrt sind wir all die Orte wieder abgeschritten, die auf so brachiale Art und Weise das Grauen des Menschheitsverbrechens der Shoa dokumentieren - die Baracken, die Stacheldrahtzäune, die aufgetürmten menschlichen Haare, Koffer, Brillen, Schuhe, all die Bilder, Zahlen und Namen, die Schienen, die Krematorien und die Gaskammern.
Als wir an den unzähligen Schuhen der Opfer, die gefunden und ausgestellt wurden, vorbeigingen ist mein Blick an einem Schuh hängen geblieben. Es war eine einzelne Sandale. Von der Größe könnte diese Sandale gut meiner Tochter passen. Unweigerlich habe ich mir ausgemalt, welchem Kind diese Sandale wohl gehörte. Ich sah vor mir ein Leben, eine Geschichte, ein Kind, das wegen der barbarischen Verbrechen unserer Vorfahren nie groß werden durfte. Und auf einmal war ich emotional viel stärker eingenommen von dieser einen einzigen Sandale als von all den abertausenden Schuhen zusammen.
Was hat das nun mit Gott zu tun? Der jüdische Philosoph Martin Buber erklärte es einmal so: „Alles Leben ist Begegnung“ – Als Mensch habe ich nach Buber zwei Möglichkeiten der Welt zu begegnen. In einer Art die Dinge und meine Mitmenschen zu funktionalisieren, einzuordnen und in Distanz zu bleiben (Buber nennt dies „Ich-Es“) oder in meinem Gegenüber eine Einzigartigkeit, eine Unverfügbarkeit und eine unverlierbare Würde zu sehen und ihm so auf Augenhöhe zu begegnen (Buber nennt dies „Ich-Du“)
Mit diesem Kind, von dem wahrscheinlich nichts geblieben ist außer eine Sandale, bin ich in eine Beziehung getreten. Ganz leise und doch unerträglich laut rief es mir dabei eine Botschaft entgegen: Die einfachste und unmittelbarste Art Gott zu sehen, ist einem anderen Menschen in die Augen zu blicken. In ihm – so wie er ist – die Schönheit Gottes zu sehen. In der Einzigartigkeit, Unverfügbarkeit und der unverlierbaren Würde eines jeden Menschen einen Plan Gottes zu entdecken. Also alles anders zu machen, als es die Menschen- und Gottesfeinde der Nationalsozialisten gemacht haben.
Martin Buber nennt Gott das „ewige Du.“ Dort, wo ich einem Menschen wirklich begegne – selbst über die Erinnerung an sein Leben, über einen Schuh, einen Namen, ein Bild – kann ich etwas von Gottes Gegenwart spüren. Nicht als schnelle Antwort, sondern als stille, fordernde Nähe.
Vielleicht macht es auch deswegen so viel Sinn als Christ Auschwitz zu besuchen. Nicht weil Gott dort besonders leicht zu finden wäre, sondern weil wir dort wie nirgendwo sonst lernen können, Menschen als „Du“ zu sehen. Das erscheint mir für meine Gottesbeziehung so viel grundsätzlicher und wichtiger als Liturgien. Die Heilige Edith Stein – die übrigens auch in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde – sagte einmal: „Die Menschenliebe ist das Maß der Gottesliebe“